Neues Testament

Jacob Thiessen, Christian Stettler (Hg.): Paulus und die christliche Gemeinde in Korinth

Jacob Thiessen, Christian Stettler (Hg.): Paulus und die christliche Gemeinde in Korinth. Historisch-kulturelle und theologische Aspekte, BThSt 187, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, kt., 181 S., € 40,−, ISBN 978-3-7887-3479-4


Das vorliegende Bändchen enthält fünf Aufsätze, die auf eine Tagung an der STH Basel im April 2018 zurückgehen (https://sthbasel.ch). „Sie befassen sich mit dem historisch-religiösen Kontext der christlichen Gemeinde in Korinth, mit ihrer soziokulturellen Situation und mit der Reaktion des Paulus auf Spannungen und Probleme“ (7). Das knappe Vorwort (7–8) fasst die Beiträge zusammen; auf weitere deutsche oder englische Abstracts wurde verzichtet.

Im einführenden Aufsatz, „Streifzüge durch die Straßen von Korinth: Wer waren die ersten Christusgläubigen der Stadt und wo trafen sie sich?“ (9–53) skizziert Benjamin Schliesser zunächst die forschungs- und geistesgeschichtlichen Kontexte und stellt dann einzelne bekannte Christusgläubige aus Korinth vor (Gaius, der Gastgeber, der Ädil Erastus, weitere prominente christusgläubige Männer und Frauen). Die Gemeindemitglieder kamen nicht nur aus den untersten sozialen Schichten, „Die korinthischen Christusgruppen wären von einem Außenstehenden (vgl. 1Kor 14,23) wohl als ein Spiegelbild der urbanen Gesellschaft wahrgenommen worden, in die sie eingebettet waren“ (44–45). Anschließend diskutiert Schliesser die möglichen Versammlungsorte (Versammlungen der Einzelgruppen, Treffen der gesamten Gemeinde sowie die sozialen Implikationen der jeweiligen Versammlungsorte). Zu den Versammlungsorten schreibt Schliesser:

„Christinnen und Christen trafen sich … dort, wo das familiäre, berufliche oder gesellige Leben stattfand. Die Räume und Plätze, in denen die Christusgemeinschaften zusammenkamen – ob Villa, Werkstatt, Wirtshaus oder Garten –, sind nicht neutral, sondern aufgeladen mit sozialer und teils kultisch-religiöser Bedeutung. Die einzelnen Gruppen waren wohl flexibler und anpassungsfähiger als weithin gedacht. Sie nahmen mit den Gebäudestrukturen und Plätzen vorlieb, die verfügbar und praktikabel waren; Stauraum für Kultgegenstände war nicht nötig, nur Platz für die Anwesenden.

Die lokalen Settings der Versammlungen können dabei ein neues Licht auf die Probleme und Debatten in der Gemeinde werfen. Jedenfalls waren die Christusgläubigen stets gefordert, Milieubarrieren zu überwinden und Konventionen zu hinterfragen, gewachsene Netzwerke aufzulösen und neue zu knüpfen, um zu einer verbindenden Identität im Christusglauben zu gelangen. Dass die Gemeinde in der Lage war – allen Streitigkeiten und Spaltungsgefährdungen zum Trotz! – eine solche soziale Spreizung der korinthischen Gemeinde auszuhalten, ist für den Erfolg des Christentums in der Stadt nicht hoch genug zu veranschlagen“ (45–46).

Harald Seubert fragt „Sophisten in der Gemeinde von Korinth? Überlegungen zu Typologie und Reichweite des Sophistenbegriffs in der Zeit des Apostels Paulus“ (55–76). Nach knapper Definition von Sophisten und einer Einführung in die Epoche der sog. Zweiten Sophistik (deren Beginn in der Forschung eher nach Paulus angesetzt wird, ca. 60–230 n. Chr.), untersucht Seubert Paulus und die Unterscheidung der Geister gegenüber sophistischem und philosophischem Denken.

Im Aufsatz „Der Dionysoskult und die ‚Zungenredner‘ in Korinth“ (77–113) vertritt Jacob Thiessen, dass der Dionysoskult als wahrscheinlicher Hintergrund der Missstände und der paulinischen Antwort in 1Korinther 12–14 anzusehen ist. Thiessen skizziert Wesen und Identität des Dionysos sowie sein Verhältnis zur Musik und den Frauen. Dem folgen Überlegungen zu außerbiblischem „Zungenreden“, mögliche Hinweise auf Zungenreden zur Zeit des Jesaja (Jes 28,11 wird in 1Kor 14,21 zitiert), zur problematischen Praxis in Korinth und zur Forderung des Paulus, dass die Erbauung der ganzen Gemeinde das entscheidende Maß für jegliche Ausübung von Geistesgaben sein muss. Während das Ziel der Praxis in Korinth hauptsächlich die Selbsterbauung einzelner Christusgläubiger gewesen zu sein scheint, stellt Paulus die geistliche Erbauung der ganzen Gemeindeversammlung in den Vordergrund (7). Zu fragen wäre, ob ein möglicher Einfluss des Dionysos-Kults auch hinter den Missständen der korinthischen Herrenmahlsfeiern auszumachen ist.

Christian Stettler steuert den Aufsatz „Ohnmacht und Macht Gottes nach den Korintherbriefen“ (115–147) bei. Nach knappen Reflektionen zu Gottes Ohnmacht in der Theologie nach Auschwitz und den Thesen von John D. Caputo, der die Ohnmacht Gottes radikaler denkt als Paulus, untersucht Stettler die einschlägigen Aussagen des Paulus, nämlich „Das Schwache Gottes ist stärker, als die Menschen sind“ (1Kor 1,25), „Gekreuzigt aus Schwachheit“ (2Kor 13,4), das „Wort vom Kreuz“ als Gottes rettende Kraft (1. Kor 1,18), „Wenn ich schwach bin, bin ich stark“ (2Kor 12,10) sowie die Kraft Gottes in den Glaubenden. In der Zusammenfassung „Ohnmacht und Macht Gottes“ (140–143) schließt Stettler:

„Ohnmacht und Macht Gottes sind bei Paulus kein Paradoxon. Er setzt sie nicht gleich! Indem sich Gott in seinem Sohn ganz dem Zerstörungsgericht der Welt ausliefert und sich so der Welt gegenüber schwach macht, besiegt er die Welt und alle ihre bösen Kräfte, und indem seine Kraft den Sohn vom Tod auferweckt, setzt er die neue Schöpfung in Gang, welche durch die Kraft des Geistes in und unter den Glaubenden schon Realität ist und dereinst durch dieselbe Kraft ihre auch leiblich-kosmische Vollendung erfahren wird“ (143).

Abschließend skizziert Jörg Frey „Das Ringen des Paulus um die Einheit der Gemeinde: Der erste Korintherbrief als Vermittlungsschreiben und seine integrative Argumentationsstruktur“ (149–181). Frey beschreibt Differenzen und Konflikte in der korinthischen Gemeinde und den korinthischen „Parteienstreit“ und charakterisiert die unterschiedlichen Gemeinde-Gruppen (150–159). Auf diesem Hintergrund analysiert Frey die integrative Argumentation des Paulus in den zentralen Diskursen in den einzelnen Abschnitten des Briefs (1Kor 1–4; 12–14; 8–10; die Ausführungen zum Herrenmahl in Kap. 11 bleiben außen vor). Nach Frey erscheint „dieses Schreiben als ein eindrückliches Bemühen des Apostels, mit den unterschiedlich geprägten Gruppen in der korinthischen Gemeinde in Wertschätzung und Korrektur so umzugehen, dass diese auf der Basis des Kreuzes Christi zueinander und auf die Einheit des Leibes Christi hingeführt werden. Dies lässt sich erkennen an der Art und Weise, wie die verschiedenen Teile des Briefes und ihre jeweilige Argumentation aufeinander bezogen und miteinander verschränkt sind“ (149). Frey weist darauf hin, dass Liebe und Rücksichtnahme als Kriterien eines gemeinschaftsfördernden Verhaltens in der Argumentation des Paulus nicht einfach eingefordert werden,

„sondern durch eine subtile Kunst der Überzeugung gleichsam schmackhaft gemacht (so in 1. Kor 13) und durch den Rückgriff auf ein gängiges Bild (vom Leib; siehe 1. Kor 12,12–26) sowie auf das Vorbild des Apostels selbst (1. Kor 9) plausibilisiert. Sofern die Adressaten dieses Vorbild als authentisch anerkennen konnten, musste sich ihnen auch die Motivation bieten, ihre – sehr wohl gegebenen – Freiheiten nicht rücksichtslos, egoistisch oder gedankenlos auszuleben, sondern in ihrem Verhalten auf die Folgen für andere und den Nutzen für das Ganze zu sehen. So praktiziert der Apostel im ersten Korintherbrief Gemeinde-Aufbau, Integration der unterschiedlichen Gruppen und Motivation der Gemeindeglieder zu eigenem integrativem Verhalten“ (178).

Die anregenden Aufsätze fassen aktuelle Forschungsergebnisse zum 1. Korintherbrief zusammen und bieten eine Reihe frischer Perspektiven. Angesichts des hier Gebotenen freut man sich auf weitere Studientage an der STH Basel und ihre Ergebnisse.


Prof. Dr. Christoph Stenschke, Biblisch-Theologische Akademie Wiedenest und Department of Biblical and Ancient Studies University of South Africa